Wenn Querdenker_Innen den Kunstbegriff entdecken... ft. die Beispielgurke

Wenn Querdenker_Innen den Kunstbegriff entdecken... ft. die Beispielgurke

SAMSTAG, 14.11.2020:

Ein alter nackter Mann steht unter der Dusche. Ich darf ihm kurz dabei zusehen, wie er sich das Gesicht unter dem Wasserstrahl schrubbt, dann dreht er sich rum und schreit etwas. Grinst. Er kommt auf mich zugelaufen und grinst blöd. Ich halte das Video an und hole tief Luft. Das faltige Gesicht ist, wie zum Glück der Rest seines Körpers, durch die schlechte Videoauflösung, sehr verpixelt. Jetzt schaut er mich im Vollbild an. Der nackte Alte Mann. Mit einem Grinsen, dass dem grünen Kobold aus der ersten Spiderman - Verfilmung gleichkommt. Eigentlich vermutete ich hinter dem Thumbnail einen Kommentar zu einem BILD-Beitrag. Aber in den letzten Tagen habe ich mich fast ausschließlich mit Herren und Damen umgeben, die die Corona-Pandemie nutzen, um ihre Selbstherrlichkeit zu zelebrieren. Duschende Männer sind da nur die Spitze des Eisbergs. Ich stelle das Video auf doppelte Geschwindigkeit, um Zeit zu sparen. Das digitale durchforsten und aufspüren verzweifelter Internetgestalten macht mich müde und hungrig. Ich öffne die dritte Packung Schokokekse und beginne am besten von Anfang an zu erzählen...

Montag, 9.11.2020:

Ich bin wirklich selten auf Facebook. Es riecht dort nach alter Erde und Nazis und dem Geruch vergangener Sauffreundschaften, die durch Memes und Boomer-„coolen“-Sprüchen zur Schau gestellt werden. Aber manchmal bin ich dort. In meiner Timeline wird mir durch Personen, die ich persönlich kenne, mehrfach ein Video angezeigt. Sieht nach Kunstaktion aus: Menschen in weißer Schutzkleidung marschieren, zu einem Rhythmus durch Bern.  Aus dem Lautsprecher ertönt auch eine monotone Frauenstimme.  (Das YouTube-Video findet ihr HIER.)

Die Uniformierten tragen schwarze Armbinden mit weißen Kreuzen darauf. Ich schaue mir das Video mehrfach an. Gegen Kunstaktionen lässt sich eigentlich nie was sagen. Meistens peinlich anzusehen. Ein Ärgernis für die Anwohner_Innen, wenn wenig Leute viel krach machen. Gerade wenn solche „Aktionen“ nicht kuratiert wurden und zu irgendeinem größeren Event gehören. – Quasi Passanten kurz in ihrem Alltag gestört werden und dann weiter gehen, weil ihnen gar keine Möglichkeit der Einordnung und Kontextualisierung gegeben wird. Ohne Hintergrundinformationen sind das halt Personen, die 'nen Malerbedarf überfallen haben und jetzt durch die Stadt marschieren. Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl. Die Rhetorik und die Verwendung von  schwarzen Armbinden, lässt mich vermuten, dass hier Personen sich an Mitteln bedienen, die für ihren Kontext eigentlich unüblich sind.

Die Stimme im Video sagt:

„Desinfektionsschleusen in öffentlichen Einrichtungen

Alleine sterben lassen ist Nächstenliebe

Wahre Freiheit findet in der Isolation statt

Selberdenken gefährdet das Allgemeinwohl

Impfen ist Nächstenliebe.

Nähe vermeiden für –(unverständlich)

Opfert alles der Hygiene

Trennt euch von den Gefährdern

Schützt die Ungeborenen,

verzichtet auf ihre Zeugung.

 

Verratet eure Nachbarschaft

Regelbrecher an die Wand

Gefährder in die Einzelhaft

Maskenpflicht ein Leben lang

Impfgegner entrechten

Fügt euch der Normalität

Maskenleugner ächten

Das ist Solidarität

Kontaminierung vermeiden

Absolute Keimfreiheit

Körperkontakt schafft Leiden

Sicher ist nur Einsamkeit

 

Maskenpflicht für neugeborene

Unser Atem tötet

Sicher bist du nur in der Isolation

Sei immer gehorsam.

Impfen ist Nächstenliebe.

Nähe vermeiden für –(unverständlich)

Opfert alles der Hygiene

Schütze deine Liebsten,

lasse sie allein.

Trennt euch von den Gefährdern

Schützt die Ungeborenen,

verzichtet auf ihre Zeugung.“

Ok, hier werden die Coronamaßnahmen ad absurdum geführt. Aber was mich noch wundert: In der einen Verlinkung des Videos steht sinngemäß: Mal sehen, wie lang es online bleibt. – Das impliziert, das die Person annimmt, dass sie etwas „Verbotenes“ hochgeladen hat? Auch die Kommentare direkt unter dem YouTube-Video ergeben für mich das Bild einer wissenden Gemeinschaft, die diese Aktion als intellektuellen Streich gegen die Diktatur hochpreist?! Hä? Ich glaube, ich muss recherchieren…

Wer teilt und arbeitet mit diesem Video?

Ich bin von den Begriffen: Guerilla Mask Force aus auf mehrere YouTube-Videos gestoßen. Die Kommentare und Accounts verwenden Worte, die genau das Querdenker-Bingo erfüllen (den wunderbaren Ausdruck habe ich von dem Walulis seinen Videos geklaut 😉 ): Schlafende, Schlafschafe, Staatspropaganda, Diktatur… und auch Worte wie: Widerstand/das Eintreten für unsere Grundrechte, Freiheit, Grundgesetz, Menschlichkeit usw. werden verwendet. Das macht die Lage nicht gerade einfacher, da ich gewillt bin mit diesem Worten eigentlich etwas Gutes zu verbinden.

Verfolgen wir die Accounts weiter, werden wir zumeist auf Corona leugnende und Verschwörungstheologische Websites und Vereine weitergeleitet. Zum Beispiel die „Freiheitsboten Schweiz“ oder jbaumann.de (besagter nackter Mann vom Anfang). – Ich würde jetzt hier Links setzen, aber ich habe keine Lust, dass ich es solchen Leuten noch einfacher mache, an Klicks zu kommen.

Wer die Performancegruppe ist, ließ sich nicht herausfinden, aber ich konnte beobachten wie die Performance verwendet wird und wer davon angetan ist. Das lässt mich diesen wertvollen Erguss demokratischer Kunstfreiheit eindeutig der Querdenker Bewegung zuordnen. Erst als sich die Reproduktionen dieser Aktion verbreiten, sehe ich dies auch bestätigt. Inzwischen berichten auch lokale Medien in Deutschland darüber.

Eine Dystopie oder Naherwartung?

Trotzdem verstehe ich die Aktion nicht. Für mich wirkt es wie eine dargestellte Dystopie. Aber was hat das mit den Coronamaßnahmen zu tun? Niemand spricht von einer Lebenslangen Maskenpflicht, niemand entrechtet Impfgegner. Niemand behauptet, dass Freiheit in der Isolation stattfindet. – Niemand behauptet, dass Selberdenken das Allgemeinwohl gefährdet.  – Wessen Zukunft soll hier denn abgebildet werden? Denn im Grunde schaffen die „Künstler_Innen“ in ihrem Text die Bedingungen für Ihre Dystopie erst selbst, die Dystopie ergibt sich nicht aus den Gegebenheiten und politischen Entscheidungen, die derzeit Vorherrschen. Und gut… dass alles ganz schlimm wird, wenn wir so weiter machen wie bisher... Das kennen wir aus jeder ideellen Bewegung heraus. Sei es Jesus bis hin zu Greta. Alle sprechen von einer Naherwartung, wenn wir nicht grundlegende Dinge ändern. Der Unterschied ist, dass hinter F4F eine Wissenschaftsgemeinschaft steht. Der Unterschied zu anderen Bewegungen oder politischen Haltungen ist, dass wir uns in bestimmten menschlichen, grundsätzlichen Werten einig sind. Und hier wird´s eigentlich kompliziert und wiederum spannend darüber nachzudenken: Denn diese „Kunstaktion“, die eben nun auch in vielen anderen Städten umgesetzt wird, wird von ihren Anhänger_Innen im öffentlichen Diskurs auch als „Fakt“ und „Akt der Überzeugung“ behandelt. Wenn es dann sinngemäß heißt: Geile Aktion, hoffentlich erkennen die Systemlinge dadurch endlich die Wahrheit. – Und das ergibt in diesem Zusammenhang nicht wirklich Sinn.

Zum einen: Welche Wahrheit denn? Wahrheiten funktionieren nur in einem Glaubenssystem. Und ich wäre generell vorsichtig, wenn jemand das Wort Wahrheit benutzt oder glaubt, die allumfassende, für immer feststehende Wahrheit zu kennen. Weil wir eben keine Götter sind. Egal wie viel wir wissen, wir werden immer nur einen winzigen Teil abbilden und verstehen können und das auch nur auf die Weise, wie wir es gelernt haben. Von Interpretation mal ganz zu schweigen.

Die Zweite Punkt: Wo soll denn der Erkenntnisprozess in dieser Aktion stattfinden? Meine Idee einer Dystopie scheint nicht aufzugehen. Zumal wenn wir den Wahrheitsbegriff mit untersuchen wollen, können wir nicht von Dystopie sprechen, weil eine Dystopie immer fiktiv ist und eigentlich zum literarischen Genre der Utopie gehört. Was liegt hier also vor? Mit welcher Art von „Kunst“ darf ich mich hier dankenswerter Weise beschäftigen?

Die schwarze Wahrheit

Als ich mich durch besagte Fantasiewelten klicke, begegnet mir ein Begriff immer wieder: Die schwarze Wahrheit. Immer wieder begegnet mir ausschnitthaft dieser eine Text, der sich nur auf jener Seite vollständig darstellt: Dem multipolar magazin. Hinter dieses Magazin bin ich noch nicht ganz gestiegen. Auf alle Fälle redet es öfter von „Drehbüchern“, wenn es um Situationen geht, die das politische Geschehen beeinflussen. Genauso von "Programmiertem Chaos"… usw. Und sie zitieren dubiose Aussteigertypen, die davon überzeugt sind, dass es nicht um einen Virus geht, sondern um wirtschaftliche und politische Machenschaften.

In ihrem Artikel beschreiben sie weiterhin:

 

„Die schwarze Wahrheit ist ein philosophisches Konzept, das als Mittel äußerst wirksam in Rhetorik, Aktionskunst, aber auch in politischen Auseinandersetzungen angewandt werden kann. Allerdings passiert das nur sehr selten, weil die Ausgangssituation schon in gewisser Weise extrem sein muss, um dieses Mittel zu nutzen. Im derzeitigen Stadium des politischen und gesellschaftlichen Ausnahmezustands ist diese Voraussetzung jedoch mehr als erfüllt."  

 - "Objektzerstörung durch vollständige Bejahung."

 

Das ist der Moment, wo ich alle Browserseiten schließe, mich anziehe und während eines Spaziergangs alte „Fest & Flauschig“ Folgen anhöre. Nur um mich für wenige Minuten in eine Zeit zurückzuversetzen, in der die Welt noch normal war. Aber Pustekuchen, auch 2016 gab es diese Verschwörungsschwurbler schon… nur war Telegram da noch nicht so beliebt. Es bringt nichts. Ich muss akzeptieren, dass auch Idioten_Innen Begriffe wie Kunst und Philosophie für sich benutzen dürfen. – Ich muss mich selbst kurz daran erinnern, dass Demokratie und Meinungsfreiheit richtig sind, auch wenn das bedeutet, dieses „System“ eben auch jene Arschlöcher schützen muss, die sich absolut unsolidarisch verhalten. Obwohl es mir gerade lieber wäre, wir würden wirklich in einer Diktatur leben und diese Schiefdenker würden endlich mal die Fresse halten.

 

Nur mal so viel: Es gibt keine einheitliche Definition von Philosophie, aber ein philosophisches Konzept ist die schwarze Wahrheit in dieser Performance nicht. Maximal ein Prinzip. Allerdings scheinen die multipolar-magazin Redakteur_Innen ein - in Zahlen: 1 - Buch gelesen zu haben.

 

„Bei schwarzen Wahrheiten handelt es sich um Aussagen, die unter den gegebenen Voraussetzungen zwar richtig und vernünftig sind, die aber zu extrem, ja geradezu skandalös sind, als dass man sie tatsächlich so meinen könnte. Eine sehr unübliche Art des Sprechens, denn normalerweise sind Wahrheiten gut („weiß“) und Lügen schlecht („schwarz“). Schwarze Wahrheiten sind Übertreibungen beziehungsweise Überaffirmationen, die ihr Objekt so vollständig bejahen, dass es dadurch zerstört wird, erläutert der österreichische Philosoph Robert Pfaller.“

Das Buch mit Wahrheitsanspruch

Ich stöhne kurz auf. Sie beziehen sich auf einen echten Philosophen?! …die Recherche wird wieder endlos…  Ich fahre also zur Bibliothek und leihe mir dieses Buch aus, in dem die „schwarze Wahrheit“ gepriesen wird. (Pfaller, Robert: Erwachsenenspreche. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur. Frankfurt am Main 2017)

Auf der Rückfahrt beginne ich gleich im Bus dieses Buch zu lesen und schon beim Umsteigen habe ich leicht Kotze im Hals. Robert Pfaller ist Professor für Kulturwissenschaften und Kulturtheorie an der Kunstuniversität Linz. Sein Buch „Erwachsenensprache“ aus dem Jahr 2017 spielt den Verschwörungstheolog_Innen sehr in die Hände. Er zeichnet eine unheimlich düstere Welt, indem er einfach viel/alle Probleme dieser Welt aufzählt und dann eine/n Schuldige/n benennt: „Den Neoliberalismus“… dam dam daaaam. Seine These ist, dass der Mensch durch die Befriedigung seiner „Befindlichkeiten“ zum Beispiel Antirassismus-Debatten oder Gendergerechte Sprache, von neoliberalen Institutionen klein gehalten wird und sich so nicht um die „wahren Probleme“ des Lebens kümmern kann. Direkt im Vorwort schreibt er:

 

„Wenn nicht mehr Erwachsenheit – und alles, das dazugehört – öffentlicher Standard ist, sondern diverse Empfindlichkeiten, Herkünfte oder sonstige Beschaffenheiten, dann ist es den Profiteuren der neoliberalen Umverteilung nicht nur gelungen, die Verlierer in lauter irrelevante, rivalisierende und verfeindete Untergruppen auseinanderzudividieren. Vielmehr ist es dann auch gelungen, jene Öffentlichkeit zu zerstören, in der solche Gruppen sich auch nur so weit solidarisieren könnten, dass sich erörtern ließe, wie sie trotz aller Divergenzen friedlich und für alle erträglich zusammenleben könnten;“ (Pfaller S.9)

 

Dann wird noch erklärt, dass in Europa bald alles so sein wird wie in den USA usw. … Seine Lösung für diese Probleme: Erwachsenheit. Mhm…

Ich muss sagen, als ich das Buch gelesen habe, komme ich nicht nur zum gleichen Schluss wie Katharina Döbler vom dlf Kultur: „Pfallers Konstruktion ist ein in sich geschlossenes akademisches Debattenmodell, das aber in seiner Logik etwas leicht Paranoides hat.“  Mir macht sich hier noch ein anderes Bild auf: Jemand ist hier gerade ganz sehr traurig, dass sich seine Welt, in der er bisher gut zurecht gekommen ist (als weißer Mann mit einem Zugang zu Bildung) immer mehr verändert. Auch diese Fixierung auf das „Erwachsen sein“ als Ideal… Damit spricht er seiner Theorie eine Reife wenn nicht sogar Potenz zu, die andere Theorien, die sich mit den von ihm deklarierten „Empfindlichkeiten“ beschäftigen, nicht haben. Noch deutlicher wird es, als er vom Schweigen spricht: „Das Schweigen ist eine entscheidende Tugend für die Zivilisiertheit, denn es ist einer der Fälle des zivilisierten Handelns >>als ob<<.“ (Pfaller S.76) Ich weiß nicht, wie es euch damit geht, aber ich bin der Meinung: Das Schweigen Zivilisiertheit ausdrückt, können nur Menschen behaupten, die ein Leben lang zu Wort gekommen sind. Und es ist meinem queer-feministischen-Millennial-Gehirn zu verdanken, dass ich sofort Sätze im Kopf habe wie: Junge Frau, jetzt werden Sie nicht gleich hysterisch. Oder: Also, ich hab meinen Nachbarn gefragt. Der ist schwarz. Und der meinte, dass das N***** kein Schimpfwort für ihn ist. - Auch vermittelt uns der Autor nur eine Bestimmte Art von Lustbegriff, nämlich seinen eigenen. Und wenn er dann von „Tabakkultur“ spricht, die man retten müsse, nebst den spöttischen Bemerkungen wenn von „Frauen (sowie alle, die im öffentlichen Raum Wert darauf legten, dafür gehalten zu werden)“ (Pfaller S. 191) die Rede ist, dann kann ich aus meiner Position heraus seine Theorie, als Instrument der Analyse und Lösungsfindung, nicht verwenden. Weil er in einer anscheinend anders funktionierenden Welt lebt als/wie ich das tue.

Wäre seine Theorie ein Korkenzieher, dann ist mein Weltverständnis eine Tasse Tee. Völlig unnötig beides zu komponieren. Ich brauche das Wissen, wie man Wasser erwärmt, Tee „erzeugt“, finde auf schmerzhafte Weise heraus, ab wann heißer Tee gefahrlos getrunken werden kann und nach welcher Ziehzeit der Tee bitter wird… aber einen Korkenzieher brauche ich nicht... außer ich will einen Teeladen überfallen.

Gerald Wagner von der FAZ bringt es aber besser auf den Punkt:

 

„Pfaller behauptet, die Postmoderne zeichne sich - anders als die Moderne - durch ihre Politiken der Ungleichheit aus. Nicht mehr der Anspruch der Menschen auf einen gewissen Teil des gesellschaftlichen Reichtums solle befriedigt werden, sondern lediglich ihrer spezifischen Empfindlichkeit eine symbolische Anerkennung widerfahren. Pfaller qualifiziert sich damit als Verschwörungstheoretiker, auch wenn dieses Theorem unter dem Etikett Verblendungszusammenhang des Kapitalismus schon länger herumspukt. Natürlich war der Kapitalismus demnach nie so blöd, einfach nur Ungleichheit zu erzeugen. Er kaschierte sie durch immer neue Masken.“ 

 

Lieber würde ich „Erwachsenensprache“ als ein Positionierungsversuch des Autors in der jetzigen Welt verstehen. Was umgekehrt nicht heißt, dass das auch der Redakteur des multipolar-magazins tut. Kommen wir also zurück zu dem Teil mit der schwarzen Wahrheit. Pfaller ist der Meinung:

 

„Mit Hilfe symbolischer Verfahren lässt sich Wirklichkeit also tatsächlich beeinflussen. Formen des uneigentlichen Sprechens wie weiße Lüge und schwarze Wahrheit sowie die ihnen nahstehenden Formen politischer Parodie und Satire besitzen reale Veränderungsmacht.“ (Pfaller S.111)

 

Weiterhin behauptet er, dass solche „satirischen Angriffe“ nur funktionieren, wenn ein symbolischer Überbau schon gegeben ist. – Was aus meiner Sicht nichts mit Wahrheit oder Lüge zu tun hat, sondern mit Sprache an sich. Worte, Sprache, Handlungen usw. haben immer eine symbolhafte Aufladung und können Dinge bewirken. (Ein super Einstieg, um sich mit diesem Thema zu beschäftigen, ist das Buch „Sprache und Sein“ von Kübra Gümüşay. Dieses Jahr erschienen. Gibt es auch als Hörbuch. Lese es gerade nochmal zur Beruhigung und um mich meiner eigenen Bubble wieder abzusichern...)

Perspektiven statt Wahrheiten

Aber ich schweife immer wieder ab. Pfaller schreibt über die schwarze Wahrheit: 

 

„Was sie sagt, mag vernünftig sein, nur ist es schlechthin skandalös, es zu behaupten. Die Behauptungen der schwarzen Wahrheit erscheinen von einem >>unmöglichen Standpunkt<< aus vorgetragen.“ (Pfaller S.93)

 

Und hier haben wir das größte Problem an der Sache, die den Querdenker_Innen in die Hände spielt, bzw. eigentlich die gesamte verschwurbelnde Situation zusammenfasst: Hier haben wir einen Wahrheitsanspruch! Wir haben keine Perspektiven, sondern Wahrheit und Lüge, die sich angeblich positionslos einschätzen lassen. Erst wenn wir Wahrheit oder Lüge einsetzen, wählen wir die Positionen.  - Ab dem Zeitpunkt lohnt sich eine Diskussion eigentlich nicht mehr, weil wir hier von zwei gegensätzlichen Realitätsvorstellungen ausgehen. Was aber wichtig ist, wenn wir in diesem System bleiben, wo es Gut und Böse gibt, schwarz und weiß sich gegenüberstehen bla bla bla: Pfaller schafft mit der Beschreibung der „schwarzen Wahrheit“ ein Bild von Inhalten, die allen bekannt sind, sich aber keiner Auszusprechen traut. – Pfaller treibt es noch weiter und spricht von einer vollständigen Bejahung eines Zustandes. Was auch ganz leicht mit Übertreibung zu verwechseln ist… um das mal zu übertragen:

Die Querdenker halten die Corona-Diktatur für die Wahrheit. Um daraus eine „schwarze Wahrheit“ zu machen, also einen Zustand, der vorherrscht, den aber andere, weil sie sich selbst belügen, nicht wahr haben wollen, müssen sie eine Sprecher_Innenposition der „Unmöglichkeit“ einnehmen und beziehen damit eine Position, die keiner der anderen Parteien einnehmen kann/will... Jetzt kommt aber der eigentliche Punkt, der die letzten zehn Minuten eures Lebens absolut, sinnlos werden lassen: DAS ALLES SPIELT KEINE ROLLE! Warum? Weil ich, sowie zum glück ein Großteil der Menschen, nicht die „Corona-Diktatur“ als wahr und erwiesen betrachten, sondern die Corona-Pandemie. Als philosophisches Konzept der Überzeugung funktioniert das dann nicht. Dennoch: Es gibt auch unzählige Videos zu „Schwarze Wahrheit“, die mit der Idee der Übertreibung bis hin zur Anbetung arbeiten.  Wie ich aber z.B. unter dem Video von „hans peter“  gesehen habe, werden einige dieser Videos von YouTube gelöscht… „hans peter“ hat die Nachricht von YouTube in den Kommentaren geteilt.

So schreibt YouTube: „Auf YouTube sind keine Inhalte erlaubt, in denen der Nutzen des von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder lokalen Gesundheitsbehörden empfohlenen Social Distancing oder der Selbstisolation ausdrücklich infrage gestellt wird und die dazu führen könnten, dass Menschen sich nicht an diese Empfehlungen halten."

 

Und das ist das spannende, weil hier die Gleichung eben nicht aufgeht. Beide Parteien vertreten ihre eigene „Wahrheit“ und beide Parteien handeln, um die „Wahrheit“ aufrecht zu erhalten. Bevor es also darum geht, die Wahrheit ans Licht zu bringen, muss sich erstmal auf eine Wahrheit geeinigt werden. Deshalb ist diese VERSCHWÖRUNGStheorie auch so wichtig in diesem Zusammenhang. Nur durch die Unterstellung, alle wüssten Bescheid, aber keiner tut etwas dagegen, macht es erst möglich mit „Wahrheit“ zu argumentieren.

Die Beispielgurke

Im Abschnitt „Wie ein Spiegel der Hässlichkeit“ des multipolar-Artikels wird erklärt:

 

„Die Demonstranten müssen Regierung, Polizei, Medien und Gegendemonstranten auf deren eigenem Gebiet noch weit übertreffen. Ihre Forderungen müssen viel härter sein, absurd härter. Und das muss auch sichtbar werden.“

 

Wieder stößt mein Systemling-Hirn an seine Grenzen. Die wollen also die Gesetze anprangern, in dem sie diese übertreiben und darstellen, dass die übertriebene Variante… übertrieben ist? Wuäää?

 

Das ist als würde ich am Gemüsestand stehen, auf eine Gurke deuten und schreien: „Eine Gurke für 50 Euro. DAS IST MIR BIO WERT!“ Der Verkäufer schaut mich an. „Ja, aber die kostet 97 Cent.“ Ich schaue ihn an, nehme mir die Gurke, halte sie theatralisch in die Höhe und rufe. „97 Cent sind mir zu teuer, deshalb nehme ich mir jetzt das Recht heraus, einen noch höheren Preis zu nennen und und laut rumzuschreien!“ Und dann laufe ich über den Markt, hinter mir der gestresste Verkäufer, der seine Gurke wieder haben will, und ich schreie: „Eine Gurke für 50 Euro. DAS IST MIR BIO WERT! Eine Gurke für 50 Euro. DAS IST MIR BIO WERT!“ – Da ich so fern der Realität bin, mit meiner 50 Euro Gurke (oder die Querdenker_Innen mit ihrer lebenslangen Maskenpflicht) werde ich nur schief angeschaut, und überzeuge niemanden von meiner Wahrheit der Biogurken-Diktatur…

Fazit

Als ich das geteilte Video das erste mal gesehen habe, war ich mir noch nicht sicher, aus welcher Ecke es kommt. Denn an sich kann ein Symbol/ ein Phänomen oder Ausspruch ja entstehen und jemand Fremdes eignet sich diese Dinge dann an. Siehe das deutsche Grundgesetz, oder der Ausspruch: „Wir sind das Volk!“, Dinge die jetzt eben auch von Verschwörungsschwurblern und AfDlern aus dem Zusammenhang gerissen werden. Die Uniformität und die schwarzen Armbinden in Verbindung mit Kritik oder einer dargestellten Dystopie, passt gerade nicht in eine Kunstperformance mit demokratischen Ansinnen. Kunst hin oder her. Und selbst wenn wir von Kunstfreiheit sprechen, können wir diese trotzdem auf die Inhalte Überprüfen. Denn: Hier wird sich nicht gegen die Maßnahmen im Kontext einer Ungleichbehandlung oder Unsichtbarkeit von Personengruppen ausgesprochen. (Wenn zum Beispiel Personen aus der Veranstaltungsbranche #alarmstuferot auf die Straße gehen, weil sie verlangen, dass auch sie in den Hilfspaketen berücksichtigt werden sollen, stellen die zwar politische Entscheidungen in Frage, entwerfen aber keine Horrorszenarien und zweifeln die Pandemie/Pandemiemaßnahmen auch nicht an... UND HALTEN SICH VORALLEM BEI DEMOS AN DIE HYGIENEREGELN!)

 

Ich kann also diese „Kunstaktionen“ und die Philosophie dahinter auf alle Fälle im Querdenker_Innen-Mileu verorten. Und das macht mir am meisten Angst. Zum einen, weil der Aufruf zu unsolidarischem Verhalten nun unter „Kunst“ läuft, zum anderen weil es anscheinend Menschen mit Verstand erwischt hat und diese „künstlerische“ Ausdrucksform auch eine neue Gruppe an Menschen erschließt. Diese intellektuelle Sprache, das Gerede von Nächstenliebe und Einigkeit… jetzt bekommen die Nazis (und alle, die im Schulterschluss da mitlaufen) auch noch den Satire-Begriff geschenkt. Zum Kotzen ist das.

 

Das Durchlesen dieser ganzen Webseiten und das Anschauen der Videos macht mich schon ganz Irre, weil ich die ganze Zeit denke, dass DAS doch eigentlich die Satire sein muss. Aber nein, die glauben wirklich an die Weltverschwörung und dass sie, als einzelne Person, es natürlich besser wissen als eine Gruppe von Experten_Innen und Wissenschaftler_Innen. -  Meine These: Zu viele Filme geschaut. Mit diesem Underdog-Narrativ kann sich auch jeder identifizieren. Und es klingt auch ganz toll *Trommelwirbel* :

 

2020. Die Welt wird von einer Pandemie beherrscht. Die Regierung erlässt Maßnahmen, die die Bevölkerung angeblich vor einem gefährlichen Virus schützen sollen. Nur eine Kleine Gruppe an Menschen kennt jedoch die Wahrheit, die dahintersteckt: Die TOTALE KONTROLLE DURCH *hier beliebiges Feindbild einfügen*. Unerbittlich kämpfen die Auserwählten einen Kampf, den sie eigentlich nicht gewinnen können… doch dann entdecken sie die Prophezeiungen der SCHWARZEN WAHRHEIT. Die Karten werden neu gemischt und mithilfe ihres übersinnlichen Gespürs und unerbittlichen Sätzen wie: „Demokratie ist ein anderes Wort für die Diktatur der Mehrheit.“ geben sie nicht auf, bis alle Menschen befreit sind, von der Corona-Verschwörung… DEMNÄCHST IM KINO

 

Wir brauchen Systeme und Glaubenskulturen, um uns die Welt zu erklären. Das ist wichtig. Wir übernehmen Verhalten/Kulturen/Ansichten aus unserer Familie/Umfeld. Das ist das eine. Was aber, wenn die Welt um uns herum zusammenstürzt oder wir in dem kulturellen System, in dem wir uns befinden, nicht erfolgreich oder glücklich sind? Wir suchen eine Ursache oder einen Sinn bzw. die WAHRHEIT. Im Kontext der Verschwörungstheolog_Innen heißt dies, dass sie eine/n Schuldige/n für ihr verwirktes Leben suchen und den Typen folgen, die am lautesten rumschreien. Von Antisemiten bis zu Personen, die sich von Licht ernähren, scheint da alles dabei zu sein… Ich habe mir wirklich viel angeschaut, aber die meisten Beiträge verstehe ich einfach nicht. Es gibt keine Argumentationskette. An sich wird eine Überschrift gesetzt, dann werden „Fakten“ aufgezählt und „wer das nicht versteht, der wird es auch nie verstehen“. Sprich: Hier wird ein Spannungsfeld eröffnet zwischen dem Missionieren/Überzeugen von der Wahrheit und der Selbstdarstellung einer hegemonialen Gruppe, die mehr weiß, als die „Systemlinge“ und deshalb die besseren Menschen sind.

Und das ist eigentlich das Wichtigste: In ihren Ideologien dreht es sich eigentlich nicht um Wahrheit, sondern um Anerkennung. Wie in „Erwachsenensprache“  brauchen die das Feindbild nur, um einen Vorwand zu haben, um ganz laut „vereinigt euch“ zu schreien. Und sicher hat Pfaller recht, wenn er sagt, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Und natürlich gilt es Entscheidungen der Regierung zu hinterfragen. Das heißt aber nicht, dass hinter allem ein weltumspannender Plan steckt und schon gar nicht ist es notwendig, die eigenen Wahrheiten und Ansichten zu übertreiben, um sie sichtbar zu machen.

Und vor allem bedeutet es nicht, dass es irgendeine Rechtfertigung gibt, gemeinsam mit den Nazis zu marschieren, ob mit oder ohne Maske.

 

In diesem Sinne: Bleibt negativ und schaut mehr MaiLab-Videos!

 

XOXO

Luise